Sven, 47, Stuttgart: „Die Leute haben mich beneidet“

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Wie ticken Männer im mittleren Alter? Wie blicken sie auf ihr bisheriges Leben und was würde ihr junges Ich über sie heute sagen? In unserer Köpfe-Rubrik protokollieren wir Momentaufnahmen.

Ich lebe aktuell in einer Zeit des Umbruchs. Seit fast zwei Jahren orientiere ich mich privat und beruflich neu. Beruflich verbringe ich die meiste Zeit damit, meine eigene App voranzubringen. Das macht mir viel Freude, weil ich da meine Kreativität voll ausleben kann.

In meinem Leben war ich bislang immer sehr geradlinig unterwegs. Privat wie beruflich. Die Frau mit 17 Jahren kennengelernt. 30 Jahre Partnerschaft mit der ersten großen Liebe. Vor 13 Jahren kam dann unsere gemeinsame Tochter zu Welt. Zeitgleich habe ich mich als IT-Berater selbstständig gemacht. Ich war sehr erfolgreich in meiner Arbeit. Einige Kunden und Partner feierten mich als regelrechter Star in der Branche! Die Leute haben mich beneidet.

Den zweiten Ferrari habe ich im Internet bestellt

Irgendwann bin ich mit meinem Ferrari beim Kunden vorgefahren. Was für ein Auftritt, mit Pauken und Getöse auf den Parkplatz! Und: Ich konnte es mir leisten. Sowohl finanziell als auch menschlich. Ich war so ein Paradies-Vogel, habe eine ganze Reihe verrückte Sachen gemacht. Den zweiten Ferrari habe ich im Internet bestellt und ungesehen gekauft. Der wurde während Corona geliefert.

Heute besitze ich die Autos nicht mehr. Weil ich gemerkt habe, dass sie für mich und mein Leben keine Bedeutung haben.

Wie kam es zu dem Lebenswandel? Es fing damit an, dass mitten im Vortrag die Stimme weg war. Etwas mehr als zwei Jahre ist das jetzt her. Vor versammelter Mannschaft nicht mehr sprechen zu können, da kommt ein unglaubliches Schamgefühl auf. Du bekommst Herzrasen, fängst an zu schwitzen. Du hast das Gefühl, der Boden tut sich auf – du überlegst, was du tun kannst, aber der Verstand dreht völlig frei. Er will flüchten, erstarren, dir wird schwindelig…

Ich habe zwei Stunden lang geweint

Beim ersten Mal“ Stimme weg“ ging es nach zehn Minuten wieder – mit ein paar Atemübungen konnte ich weitermachen. Beim zweiten Mal wusste ich: Es ist vorbei. Das ist ne richtige Panikattacke. Auf dem Heimweg habe ich im Auto zwei Stunden lang geweint.

Panikattacken – das kannte ich aus meiner Kindheit, als ich 11 oder 12 Jahre alt war. Ich war immer der Überzeugung, die hätten sich verwachsen. Ein großer Irrtum!

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mir klar wurde, woher diese Angst und Panik kamen. Ich war als Kind seelisch, körperlich und sexuell misshandelt worden. Gegen solche Verletzungen musste der kleine Sven damals etwas tun, um zu überleben. Allerlei Strategien habe ich damals ausprobiert, um all dem Schmerz zu entrinnen. Bagatellisierung war eine davon. Ich habe die Misshandlungen runtergespielt und mir gesagt: Krönchen richten, weiter geht’s. Jetzt bin ich fröhlich und leicht – erst recht! Eine andere Strategie war die der Leistung und Anpassung. Davon habe ich mir Autonomie versprochen. Studium mit Bravour, Karriere, Selbstständigkeit, sehr erfolgreich, sehr beliebt… und immer volle Auftragsbücher.

Ich war ein Sonderling

Ich habe mich schließlich dafür entschlossen, dass das ganze Leben ein Kampf ist. Schon als Kind war ich zu der Überzeugung gekommen, du musst auf dich selbst bauen – du kannst dich auf niemanden verlassen! Das Eltern- war eher ein Irrenhaus. Die Mitschüler haben mich gemobbt, ich hatte nur sehr wenige sogenannte Freunde und habe mich schon früh als anders empfunden. Ich war auch kein typischer Junge. Fußball hat mich nicht interessiert. Ich habe lieber stundenlang programmiert.

Ich war ein Sonderling. Aber ein kluger. Über das Programmieren und die guten Noten habe ich mir mein Selbstbewusstsein aufgebaut. Das war wie eine Ritterrüstung, die mit den Jahren immer größer wurde. Die war so aufgebaut: Schaut her, ihr könnt mir nix, ihr könnt mich nicht verletzen! Meine Rüstung war, dass ich niemanden mehr an mich heranlasse. Zur Rüstung gehörten meine Fähigkeiten, meine Expertise, meine Kompetenz. Ich habe das genossen, wenn die Leute zu mir aufschauten.

Der Psychologe ist gestorben

Mit den zurückgekehrten Panikattacken bin ich dann vor gut zwei Jahren erst mal zum Psychologen, der sagte: „Kein Problem, du bekommst was zum Ruhigstellen. Das nimmst du vor dem Vortrag, da hast du keine Angst mehr. Das machen alle so!“ Ich hatte da auch ein paar Sitzungen. Dann ist der ganz plötzlich verstorben! Den hat echt der Schlag getroffen, habe ich später in der Zeitung gelesen. Da ging halt einfach niemand mehr ans Telefon.

Das war aus heutiger Sicht richtig gut für mich. Ich bin dann zu einem Transformations-Seminar bei Robert Betz gefahren und habe mich mit Spiritualität und innerer Arbeit beschäftigt. Was mich auch sehr geprägt hat und noch heute hilft: Der „Kurs im Wundern“. Das ist ein spirituelles Buch mit täglichen Übungen, die ich konsequent praktiziere.

Ausbildung zum Hospiz-Helfer

Parallel dazu habe ich mich entschieden, mir mal so richtig Zeit für mich zu nehmen. Ich war ja schon mit 21 in den Beruf gegangen. Ich habe mich erstmal für Weiterbildungen im IT-Bereich entschieden, da komme ich ja her. Sieben Module waren das letztes Jahr Jahr, jeweils vier Wochen – verschiedene Programmiersprachen, App-Entwicklung, Bitcoin, Blockchain … Das ist für mich kreatives Arbeiten. Dazu sind noch weitere Dinge gekommen: Etwa eine Hospizhelfer-Ausbildung, ein längerer Besuch im Schweigekloster … Meditation, Yoga … Und schließlich eine Therapeutenausbildung nach Robert Betz, die ich in diesem Sommer abschließe.

Jetzt verbringe ich die meiste Zeit damit, meine selbstprogrammierte App weiterzuentwickeln. Ich habe sie vor ein paar Wochen veröffentlicht und vermarkte sie aktuell international. Das macht mir richtig Spaß, ich bin da so ein richtiger Daniel Düsentrieb.

Da saß ein cooler Typ im Ferrari …

Neulich war ich zum Vortrag von Eckard Tolle in Essen. Der sagt: „Ohne Leid kein Wachstum“. Wenn Du Leid erfährst, wenn es dir nicht gut geht: Dann ist das ein Geschenk! Dann weißt du, dadurch kannst du wachsen!

Mein 18-jähriges Ich? Was würde der junge Sven heute über sein erwachsenes Selbst sagen? Der fände zum Beispiel diese Ferrari-Geschichte total geil und was ich sonst so erreicht habe. Das absurde daran: Außenstehende können sich vermutlich schwer vorstellen, wie klein und unsicher ich mich damals gefühlt habe… da saß ein cooler Typ im Ferrari – aber im Innern, da war ich eher so ein 2CV, die gute alte Ente. Mein junges Ich würde vermutlich aber auch sagen: Was hängst du jetzt hier rum? Mach mal los hier!

Ich fange gerade erst an, erwachsen zu werden und zu verstehen, wer ich wirklich bin. Aus meinem Raupen-Kostüm zu wachsen, die Ritterrüstung abzulegen. Das 18-jährige Ich würde wohl auch denken: Jetzt hat er einen Knall!

Und ich, der erwachsene Sven, ich verbinde mich immer mehr mit meinem wahren selbst und öffne mein Herz jeden Tag etwas mehr. Das fühlt sich gut und richtig an und die Sorgen, Ängste und Panikattacken weichen einem völlig neuen Lebensgefühl. Dem Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Protokoll: Peter Stawowy

 

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