Jakobsweg: Muscheln pflasterten seinen Weg

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Im Sommer 2019 bin ich für zwei Wochen ein Stück Jakobsweg gegangen. Die Reise nach Spanien hat mich und mein Leben verändert.

Ich fand die Idee zuerst völlig abwegig. Irgendwie zu esoterisch – was soll das bringen? Als mir der dritte Bekannte aber vom Jakobsweg vorschwärmte, begann ich zu googeln und zu lesen. Ich hatte sowieso vor, im Sommer 2019 zwei oder drei Wochen allein zu verreisen – und für Fernost, wie ich es eigentlich mal angedacht hatte, fehlte mir irgendwie der Mut.

Mit nur 8,3 Kilo Gepäck in den Flieger

Ich las Blogs und Webseiten, lud mir eine Gepäckliste runter, kaufte schließlich Rucksack, einen Reiseführer und fürchterlich hässliche Funktions-T-Shirts. Die Wanderschuhe (Halbschuhe, die sind nicht so schwer!) lief ich auf einer Wandertour mit einem Freund und bei einem Trip in die Alpen ein. Im August schließlich stieg ich mit nur 8,3 Kilo Gepäck(!) endlich in den Flieger nach Bilbao.

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich genau dort gestartet bin. Ich glaube, ich wollte sowieso schon immer gern das Guggenheim-Museum sehen und betrachtete den Ort als gute Alternative, falls mir das Wandern nicht gefällt. Aber im Grunde ist es auch egal, wo man aus- bzw. einsteigt, denn, so platt das klingt: Der Weg ist das Ziel.

Mein Jakobsweg dauerte auch nur 14 Tage – zumindest lag da meine Zeitgrenze. Sprich: Ich bin nur einen Abschnitt gelaufen. Den aber werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen.

Warum bin ich mir untreu geworden?

Mein Jakobsweg ist geprägt von vielen kleinen Erkenntnissen, einem körperlichen Tiefpunkt und einer Reihe sehr großer Momente der Freude. Es geht im Flieger schon los: Ich sitze am Fenster, vorn heult eine Mitreisende, weil es so ruckelt und wackelt – ich feiere das total: Ich mag sowas einfach! Achterbahn fahren!

Und ich frage mich: Verflucht, warum bist du nicht schon vor Jahren alleine irgendwo hin, wie du es oft im und auch noch nach dem Studium gemacht hast? Dieses Gefühl von völliger Freiheit, diese Freude, etwas für mich zu tun, verbunden mit dem Nicht-Wissen, wo man am Abend ist: Wie konnte ich mir selbst so untreu werden?

Zwei Stunden später stehe ich in der Altstadt von Bilbao. Die Beschaffung des Pilgerpasses hat reibungslos geklappt. Am Vortag der Abreise hatte ein Bekannter noch gesagt, er wisse gar nicht, ob man den unterwegs kaufen könne – er hätte seinen im Internet bestellt. Der zweite Moment der Freude: Problem bewältigt, ohne Orts- und Sprachkenntnisse!

Täglich zwischen 10 und 35 Kilometer

Am nächsten Tag geht es dann richtig los. Der Pilgerweg ist mit Muscheln markiert. ich bin auf dem El Camino del Norte unterwegs, der soll im Sommer nicht so voll sein. Mal sind die Muscheln gemalt, mal als kleine Fließen im Boden eingelassen. Überall auf dem Weg gibt es Restaurants und Kneipen, die für 10 Euro ein Pilger-Menü anbieten.

Dass ich von Anfang an meinen Lieblingsspeisen fröhne: ein Stück Fleisch, ein paar Fritten, eine Cola oder lieber gleich einen Weißwein, werde ich einige Tage später sehr bereuen. Dann rebellieren nämlich Magen und Darm. Mein Körper ist die Anstrengung nicht gewohnt.

Der Anfang ist ohnehin mühsam: Es geht durch Industriegebiete, an lauten Straßen entlang. Irgendwann wird es doch ländlicher, ein Weg schlängelt sich runter zur Küste. Am späten Nachmittag stecke ich meine Füße ins Meer: Was für ein Gefühl! Ich stehe im Atlantik!

Das Bett quietscht fürchterlich

Die Herbergen sind immer mal wieder eine Herausforderung: Die erste Nacht schlafe ich in einer alten Baracke, vielleicht 20 oder 30 Doppelstockbetten drängen sich in einen Raum mit zu kleinen Fenstern und einer verbrauchten Küchenzeile. Die Empfehlung, mit Schlafbrille und Ohrenstöpseln zu schlafen, beerdige ich gleich mal in der ersten Nacht – mir ist einfach nur heiß!

Dazu kommt: Mein Bett quietscht so fürchterlich, da helfen auch keine Ohrstöpsel.

Der erste Abend auf Tour ist trotzdem ein großes Highlight: Ich komme schüchtern in das eine Pilger-Restaurant im Ort und werde mit großen Augen angestarrt, als ich mich alleine an einen kleinen Tisch setze.

Wenig später sitze ich mit einer Französin, zwei Italienerinnen, einem Spanier am Tisch. Es geht drunter und drüber, jeder erzählt seine Geschichte, ich verstehe vielleicht ein Viertel.

Die eine Italienerin ist Mitte 60 und berichtet, dass sie ihrer Tochter am Telefon nichts von den blutenden Blasen an den Füßen erzählt hat: „Die kommt sonst und holt mich ab!“

Es ist so herrlich leicht und unbeschwert, wir lachen viel. Und es ist so völlig egal, woher ich komme, was ich beruflich mache oder vor was ich hier gerade wegrenne. Das Grinsen begleitet mich in den Schlaf.

Einen Teil der Abendbekanntschaften werde ich in den folgenden Tagen immer wieder treffen.

Polen, Spanierinnen, eine Ungarin

Am nächsten Tag stelle ich fest: Ich bin nicht der Schnellste. Monica, eine Spanierin, begleitet mich ein Stück. Bis ich sage: „Sorry, du bist zu schnell für mich“ – und sie ziehen lasse.

Was ich hinterher erst begreife: große Männer (gern deutsch!) und Spanierinnen – da kann ganz schön Energie drin sein. Das hat nichts mit Monica zu tun, auch wenn sie das, was ich erst viel später begreife, offenkundig gern anders gehabt hätte.

Sie erzählt mir noch, bevor sie weiterzieht, dass im nächsten Ort die Herberge nur 15 Plätze hat.

Wie soll das gehen?! Als ich ankomme, sind noch drei Plätze frei. Das Glück ist mit mir! Und mein neuer Bekanntenkreis wächst.

Unten im Ort springen Jugendliche von einer 20 Meter hohen Brücke ins Meer, der halbe Ort und jede Menge Touristen haben sich versammelt, das eindrucksvolle Schauspiel zu betrachten.

Nach der Besichtigung des wunderschönen Ortes sitzen Monica und ich bei Schinken, Bratkartoffeln, Spiegelei, Melone und Weißwein in einer Bar. Ich schlafe die Nacht viel besser, ich bin sehr glücklich.

Nach drei oder vier Tagen habe ich eine Clique. Zwei sehr herzliche und fröhliche Polen, zwei sehr redselige Spanierinnen, eine taffe und tiefgängige Ungarin. Und ich.

Bei der zweiten oder dritten zufälligen Begegnung, die wir jedes Mal wie ein Fest feiern, tauschen wir Nummern. Ab da setzen wir uns gemeinsame Ziele und verbringen die Abende gewöhnlich zusammen.

Ich genieße das sehr. Die kleine Spanierin widmet mir viel Aufmerksamkeit.

Am Tiefpunkt kommt der Höhepunkt

Am fünften Tag bin ich allerdings vorläufig am Ende: Ich komme nach einem eher ungeplanten 35-Kilometer-Marsch völlig dehydriert (Merke: Trinken, viel trinken!) an der Herberge an, um zu erfahren: Alles ausgebucht. Rita, die Ungarin, und ich sind mit den Nerven am Ende. Tränen kullern leise die Wangen runter.

Keine weiteren Plätze im Ort, das nächste Hotel 20 Kilometer entfernt. Ein Zelt habe wir auch nicht – ich sehe mich schon unter einem Baum liegen.

Da kommt der Pole Wojtek aus der Herberge und freut sich: „Da seid ihr ja! Ich habe ein Zimmer für euch reserviert!“ Wieder kullern die Tränen, dieses Mal vor Freude.

Es gibt da aber noch ein Thema: Mein Magen und Darm haben die Faxen nach der Tour völlig dicke. Oder dünne, wenn man es genau nimmt. Ich bin schwach, fiebere. Tagelang völlig falsch gegessen, zu wenig Wasser, zu viel Alkohol.

Die Gruppe peilt am nächsten Tag sowieso nur 12 Kilometer an – ich schlurfe alleine hinterher.

Ich formuliere es mal so: Es ist schwierig, so eine Strecke zu laufen, wenn man Nahrung nicht lange bei sich behalten kann und ständig im Gebüsch hockt. Eine der Unterhosen bleibt auf der Strecke.

Am Abend steht fest: Am nächsten Tag geht bei mir erstmal nix mehr.

Ich mache Frieden mit meinem Elend

Wie üblich verlassen die übrigen Pilger die Herberge sehr früh am Morgen, um nicht in der Mittagshitze laufen zu müssen. Plötzlich bin ich allein in dem umgebauten Stall eines Klosters. Ich fühle mich wie in einer leeren Bahnhofshalle in der Nacht. Stopfe meine Sachen zusammen und verlasse die Unterkunft. Erstmal zum Strand, es ist vielleicht 6 Uhr, es dämmert gerade erst.

Und da kommt er dann, der absolute Höhepunkt meiner Reise. Ich sitze zunächst völlig unschlüssig und ziemlich fertig am Strand und lasse die vergangenen Tage Revue passieren.

Es ist menschenleer, etwas frisch, aber Meer und Strand und Natur sind einfach nur wunderschön. Die Sonne geht auf und ich denke: Wie schön kann das Leben sein? Und was habe ich daheim in Dresden doch für banale Probleme?

Ich döse in den Dünen liegend ein. Eine Stunde später wache ich wieder auf. Die inzwischen halbhohe Sonne lacht mich an und sagt: So, und jetzt machst Du mal endlich deinen Frieden mit der Situation zu Hause und der Trennung! Und genau das mache ich!

Mogeln oder bleiben?

Ich bin aber immer noch unschlüssig: Soll ich heute hier bleiben? Da ist noch diese nette Deutsche aus Essen, die ich am Vortag beim Frühstück kennengelernt hatte. Ihre Frage, ob ich vielleicht auch einen Tag in dem Ort bleibe, wo ich gerade bin, klang wie eine Einladung.

Oder soll ich „mogeln“? Mit Bus und Taxi den anderen hinterher?

Wieder mal kann ich mich nicht entscheiden, sitze im Sand und schaue auf’s Meer. Ein zunächst abwegiger Gedanke kommt mir: Ich geh jetzt erstmal schwimmen! Das erste Mal in diesem Urlaub. Mit Anlauf springe ich in die Wellen, das kalte Wasser spült mir die Müdigkeit und das Unwohlsein aus dem Leib.

Es ist magisch: Dieser eine Moment, dieses Abwaschen der alten Sorgen in den Wellen, das Spüren meiner Haut und meines Körpers im kalten Nass – ich werde das nie vergessen. Niemals.

Immer wieder, jederzeit!

Die Reise geht noch viel weiter, die Erzählung würde hier aber den Rahmen sprengen. Nur soviel: Ich bin dann doch hinterhergefahren, zuerst der Gruppe, später der kleinen Spanierin.

Auch das Wochenende in Barcelona war voller Höhepunkte, aber das ist eine andere Geschichte. Die La Sagrada Familia wollte ich immer schon mal sehen! Eine wirklich sehr schöne Stadt, kann ich nur jedem empfehlen.

Ob ich den Jakobsweg empfehlen kann? Aber sowas von! Ob lang oder kurz, ob mit Clique oder allein: Die Reise lohnt. Ich könnte sofort meine Tasche packen und losfahren.

Immer wieder, jederzeit. Buen Camino!

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